
Wenn Autonomie zum Wettbewerb wird
Es gibt heutzutage unendlich viele Möglichkeiten, seiner Autonomie in einer Partnerschaft Ausdruck zu verleihen. Man kann sich durch Hobbys, Weiterbildungen, den Beruf, eigene Freundschaften, Kinder, die Herkunftsfamilie, aber auch durch dysfunktionale Räume wie Substanz- oder Verhaltenssüchte einem Bereich zuwenden, der nur einen kleinen Teil des gemeinsamen Raumes mit dem Partner oder der Partnerin berührt. Und das ist gut so. Diese – zumindest die funktionalen – Räume bringen neue Informationen, Ideen und Facetten in die Partnerschaft. Sie geben uns die Möglichkeit, den Partner als eigenständigen Menschen zu erleben und zu definieren.
Wenn Autonomie zur Konkurrenz wird
Doch eine zu häufige oder zu intensive Zuwendung zu autonomen Bereichen – die auch nicht unabhängig von der sozialen Marktlogik des Spätkapitalismus betrachtet werden kann – kann das Gegenüber irritieren. Es kann darauf mit eigenen Autonomie-Aktionen reagieren, sodass sich eine Art „Autonomiewettbewerb“ entwickelt.
„Denn wer will schon der Abhängigere sein? Wer möchte schon derjenige sein, der auf den anderen wartet?“
Und selbst wenn man sich bereit erklärt zu warten, kann das mit Minderwertigkeits- oder Ohnmachtsgefühlen einhergehen.
Nähe neu kultivieren
Wie sich diese Dynamik auch entfaltet – auf der Strecke bleibt meist das Gefühl von Nähe und Verbundenheit. Dieses gilt es, neu zu kultivieren. Wenn über längere Zeit kein gemeinsamer Raum mehr vorhanden ist, entsteht bei dauerhafter Autonomie-Verfolgung das Gefühl von „Wir haben uns auseinandergelebt“.
In der Folge können destruktive Formen der Autonomie entstehen – etwa Affären, Koalitionen mit Freunden gegen den Partner oder Verhaltenssüchte. Wenn das Gefühl der Verbindung wiederbelebt werden soll – und das funktioniert auch dann, wenn ein Autonomiewettbewerb bereits begonnen hat –, braucht es die bewusste Würdigung der Beziehung und des Wunsches nach Nähe.
Das geschieht durch Kommunikation, auch wenn man dabei die eigene Verwundbarkeit zeigt. Wenn man die eigene Ohnmacht ausdrückt, den anderen halten zu wollen – ohne Appell, sondern als Ausdruck von Liebe –, entsteht wieder Raum für Begegnung.
Wenn Nähe nicht möglich ist
Manche Menschen kann man jedoch nicht aus ihrer Autonomieverfolgung herauslösen. Ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit ist so stark, dass sie diesem vermutlich ihr ganzes Leben lang folgen und sich nie vollständig auf eine Partnerschaft einlassen können. Auch das darf erkannt werden – vor allem dann, wenn man sich in seinem Schmerz und seiner Ohnmacht offen zeigt und dennoch keine Nähe entsteht. In diesem Fall kann es stimmig sein, über ein Ende der Beziehung nachzudenken. Eine Paarberatung oder -therapie kann dabei ein wichtiger Zwischenschritt sein, um dies gemeinsam zu reflektieren.
Bezogene Individuation: Das Gleichgewicht von Nähe und Freiheit
Wenn Nähe wieder entstehen kann, gilt es, als Paar in einem fließenden Gleichgewicht zwischen Autonomie und Verbindung hin- und herzupendeln – um auf der einen Seite Freiheit und Ich-Sein, auf der anderen Seite Verbundenheit zu erhalten.
Helm Stierlin, Psychiater, Psychoanalytiker und Mitbegründer der systemischen Familientherapie im deutschsprachigen Raum, nennt dies „bezogene Individuation“. Man kann es mit einem Tanz vergleichen, in dem man sich immer wieder im Augenkontakt und in körperlicher Nähe begegnet, sich berührt und gegenseitig bewegt – und sich doch zwischendurch auch lösen, den eigenen Rhythmus finden und für sich tanzen darf.
Systemischer Therapeut und Familientherapeut (DGSF)