Abschied ohne Segen

Wenn wir uns von Menschen lösen (beispielsweise von den Eltern, in einer Partnerschaft oder von einer alten Arbeitsstelle) kommt es vor, dass die Menschen, von denen wir uns lösen, Schwierigkeiten damit haben. Diese Schwierigkeiten entstehen meistens dann, wenn wir ein Bedürfnis bei diesen Menschen erfüllt haben, das ohne unser Zutun unbeantwortet bleibt. Doch wie es manchmal im Leben ist, können wir in unserer Entwicklung nicht immer ausschließlich auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen, um wachsen zu können. Manchmal ist es für unser Wachstum unbedingt erforderlich, dass wir uns ablösen. Gleichzeitig bleibt etwas in uns unbeantwortet, manchmal sogar im Konflikt – einfach, weil wir zum Weggehen keinen Segen erhalten. Vielleicht kriegen wir sogar Schuldgefühle und bleiben deshalb auf eine Art im Kontakt, die eher einer Pseudo-Ablösung als einer wahren Ablösung gleichkommt.
Aber wie können wir uns in einem guten Gefühl loslösen, wenn wir das Gefühl haben, dass die Person, von der wir uns lösen, in keiner Weise damit einverstanden ist?

Die Geste
Die Ablösung beginnt mit einer Geste. Im besten Fall ist es die Ankündigung der Neuausrichtung im Gespräch. Gleichzeitig enthält diese Geste die herzliche Dankbarkeit für alles Positive, das ich erhalten habe und die Entschuldigung für alles Negative, das ich gegeben habe. Ich übernehme hier die Verantwortung für die Zeit, in der ich mit dem anderen in einer engen Bindung war. Gleichzeitig distanziere ich mich von zukünftigen Verantwortungen, indem ich dem anderen meinen Segen gebe und ihm nur das Beste wünsche. Diese Geste machen wir für uns und den anderen. Selbst wenn der andere mit unserem Fortgang nicht einverstanden ist, ist die Geste für unsere menschliche Integrität sehr wichtig.

Die Bewegung
Wenn die Geste erfolgt ist, gehe ich in Bewegung. Auch dann, wenn von der anderen Seite kein Segen ausgesprochen wurde (bzw. die Ablösung eher behindert wurde). So eine Bewegung kann einen Umzug, eine anderweitig räumliche Trennung, eine Kündigung oder etwas ähnliches bedeuten. In der Bewegung bleibt uns nicht viel Zeit für tiefe Gefühle, denn wir sind viel mit organisatorischen Einzelheiten beschäftigt. Wir müssen einen neuen Platz zum Wohnen finden, einen Umzug organisieren, eine neue Stelle ausfindig machen, etc. In dieser Zeit ist es wichtig, dass wir zwischendurch innehalten und uns etwas Gutes tun, denn sie verlangt uns viel Kraft ab.

Das neue Leben
Nach der Bewegung beginnen wir uns neu zu orientieren und uns neu einzurichten. Dazu gehört nicht nur, dass wir den neuen Raum, den wir haben, vielleicht mit Bildern und Pflanzen dekorieren. Dazu gehört auch, dass wir uns zwischenmenschlich neu einrichten. Die alte Ablösung hat einen Raum ermöglicht, in den wir neue Menschen einladen können. Menschen, die unser Wachstum in dieser Lebensphase fördern. Menschen, die uns für unseren neuen Stand, unsere neue Haltung feiern. Wir sollten uns auch Zeit nehmen, um unsere getane Bewegung zu würdigen und vielleicht sogar ein bisschen Stolz zu empfinden: Wir sind stark gewesen, wir sind trotz der Widerstände in Bewegung gekommen, wir haben in unserer Entwicklung etwas Gutes für uns getan.
Wenn wir dann langsam zur Ruhe kommen und fest in unserem neuen Stand sind, können wir einmal zurückblicken. Wie geht es der Person, von der wir uns abgelöst haben? Ist sie immer noch verwundet? Wurde sie vielleicht mittlerweile anderweitig versorgt? Oder ist sie vielleicht noch in der Anklage? – Egal, wie es um sie aussieht, schaue in Liebe und Mitgefühl auf sie zurück. Wenn Du kannst, spüre im Mitgefühl ihren Schmerz, ohne ihn zu Deinem zu machen. Sie wird ihren Raum zum Wachsen haben, aber Du bist für dieses Wachstum nicht verantwortlich und wirst auch kein Teil davon sein. Das gehört dazu. Auch den Segen, den dir diese Person vielleicht irgendwann (doch) zu Teil werden lässt, wird nicht mehr viel mit Dir zu tun haben, sondern vielmehr mit dem Wachstum dieser Person.
Deshalb darfst Du loslassen und Dich auf das Neue einlassen, Du darfst lieben, Du darfst kämpfen, Du darfst erleben, Du darfst genießen, Du darfst wachsen. Denn deshalb bist Du hier. Deshalb sind wir alle hier.

✒ Dr. Robin Junker